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„Mein Mindset als Sportler hilft mir sehr“

Wasserball-Nationalspieler Tobias Preuß (34) gewann zehn deutsche Meistertitel mit Wasserfreunde Spandau 04 und Waspo 98 Hannover. 2021 beendete er seine erfolgreiche Karriere – und fiel zunächst in ein Loch. Der Übergang vom Sport ins Berufsleben war trotz abgeschlossenen Psychologie-Studiums eine große Herausforderung. Heute arbeitet Preuß als Consultant. Ein Gespräch über große Träume, starke Schmerzen und innere Arbeit.

© Philipp Dümcke / Athleten Deutschland e. V.

2023

Aufgezeichnet von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. 

1. Tobias, wann hast du deine Leidenschaft für Wasserball entdeckt?

Ich bin in Berlin-Spandau aufgewachsen. Damals gab es die „goldene Wasserball-Generation“ von Spandau 04. Also fing ich mit acht an, Wasserball zu spielen. Im Sommer 2000 machte die deutsche Nationalmannschaft bei uns ein Trainingslager. Ich war von der Sportart, den Spielern und ihren Leistungen fasziniert. Da wurde mir klar: Ich will als Wasserballer zu den Olympischen Spielen. Ich möchte hinter der deutschen Fahne ins Stadion einlaufen. Dieses Bild hat mich während meiner gesamten Karriere angetrieben. Dafür habe ich trainiert.

2. Du bist mit 16 in die erste Mannschaft von Rekordmeister Spandau gekommen. In dieser Zeit starb auch dein Vater. War der Sport damals eine Hilfe?

Als ich 2005 in die Bundesliga-Mannschaft berufen wurde, machte es mich wahnsinnig stolz, mit meinen Vorbildern gemeinsam trainieren zu können. Im gleichen Jahr ist mein Vater vor meinen Augen an einem Herzinfarkt gestorben. Ich hatte noch versucht, ihn zu reanimieren. Leider erfolglos. Der Sport war in dieser schwierigen Zeit mindestens eine gute Ablenkung, aber auch eine Art Zufluchtsort. Etwa 10 Tage nach Vaters Tod habe ich dann meine erste Jugend-EM gespielt.

3. Nach dem Abitur hast du zunächst ein Jahr Psychologie in Deutschland studiert, dann bist du zum Studium nach Los Angeles gegangen. Warum ausgerechnet in die USA?

Mir waren drei Dinge wichtig: Wasserball, Ausland und Studium an einer renommierten Universität – da waren die USA die beste Möglichkeit. Da ich mich durch den Wasserball-Sport finanziell nicht bis zum Lebensende absichern kann, wollte ich für mich alles rausholen, was ging. Ich wollte mein Potenzial maximal ausschöpfen. Also bin ich drei Jahre in den USA geblieben und habe dort den Bachelor in Psychologie gemacht.

4. War dir schon immer klar, dass du allein vom Wasserball nicht leben kannst?

Ja. Ich wollte auch nie allein Sportprofi sein. Es hat mir nicht genügt, „nur“ zu trainieren oder zu spielen. Ich wollte auch immer etwas für den Kopf machen. Der Bereich Psychologie hatte mich schon immer interessiert. In der Zeit nach dem Tod meines Vaters habe ich mit einem Coach im mentalen Bereich gearbeitet. Dabei merkte ich, dass das ein wirksames und tolles Instrument sein kann. Seitdem war mir klar, dass ich Psychologie studieren möchte.

5. Dein großer Traum war immer die Teilnahme an Olympischen Spielen. Doch die deutschen Wasserballer verpassten das Ticket für Rio 2016. Wie bitter war das für dich?

2016 ist für mich ein ganz dunkles Kapitel. Ich wollte unbedingt zu den Spielen nach Rio, aber wir haben damals die Olympia-Qualifikation nur um ein einziges Tor verpasst. Das war echt schwer für mich. Ich hatte zunächst den Gedanken aufzuhören, habe dann aber weitergespielt. Als dann die Spiele in Rio liefen, habe ich mich erstmals intensiv mit mir selbst auseinandergesetzt. In dieser Zeit habe ich mich mit dem Zen-Buddhismus beschäftigt und mich dem Thema Achtsamkeit hingegeben. Ein wirklicher Wegweiser für mein Leben, wie sich später herausstellen sollte.

6. 2020 kam die Corona-Pandemie. Die Olympischen Spiele in Tokio wurden um ein Jahr verschoben. Und es kam der erste Lockdown. Wie hast du das erlebt?

Es war Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite war ich natürlich frustriert und traurig, weil ich mit den Olympischen Spielen in Tokio meiner Karriere die Krone aufsetzen wollte. Auf der anderen Seite hatte ich zum ersten Mal seit vielen Jahren keine Schmerzen mehr. Mein Körper kam nach sieben oder acht Jahren endlich zur Ruhe. Vorher war fast nichts ohne Schmerzen gegangen: Zähneputzen oder eine Kaffeetasse aus dem Schrank holen – fast jede Bewegung tat weh. Ich hatte Schmerzmittel genommen, um überhaupt schlafen zu können. Meine beiden Schultern sind völlig kaputt. Aber jetzt, in dieser Ruhephase, veränderte sich auch mein Gemüt. Ich hatte plötzlich wieder gute Laune. Ohne diese Schmerzen hatte ich eine deutlich höhere Lebensqualität.

7. Im Sommer ging es aber wieder mit dem Training los. Wie hat dein Körper reagiert?

Die Schmerzen kamen sofort wieder. Ich konnte nur mit Medikamenten trainieren. Das DM-Finale 2020 habe ich mit Ibuprofen 1200, Lidocain-Spritze und einem Zäpfchen gespielt. Einfach nur, um durchzuhalten. Da habe ich mich gefragt: Willst du das noch?

Ich habe erst noch weitergespielt, bin dann aber in der Vorbereitung auf die Olympia-Qualifikation ausgestiegen. Ende 2020 habe ich gesagt: Ich will das nicht mehr, ich kann das nicht mehr. Damit war für mich klar, dass ich meinen Traum von einer Olympia-Teilnahme nicht realisieren kann.

8. Wie fühlte sich das an?

Es war schwer. Denn ich wusste, es kommt nicht wieder. Es ist wirklich vorbei. Das, warum ich das alles gemacht habe, habe ich nicht geschafft. Diese Gewissheit war wahnsinnig schwer für mich. In mir war eine innere Zerrissenheit: Bist du zu schwach und könntest die Schmerzen eigentlich aushalten? Oder willst du es wirklich nicht mehr? Letztlich wusste ich es: Ich war nicht zu schwach. Ich wollte nicht mehr.

9. Wie hast du dich auf das Ende deiner Sportlerkarriere vorbereitet?

Ich habe während meiner gesamten Karriere mit Sportpsycholog:innen gearbeitet. Ab 2019 habe ich dann intensiv mit der Sportpsychologin an unserem Olympiastützpunkt Niedersachen gearbeitet, um die letzten Jahre meiner Karriere ganz bewusst zu gestalten. Es ging um die Frage: Wie kriege ich den Übergang hin? Ich habe mit ihrer Unterstützung mit meiner sportlichen Karriere „aufgeräumt“. Wir sind die verschiedenen Stationen durchgegangen. Das war für mich sehr wertvoll. Am Ende dieses Prozesses konnte ich viel positiver auf meine Karriere zurückschauen. Ich konnte besser einschätzen, wie erfolgreich ich tatsächlich war. Trotzdem nimmt es mir bis heute nicht die Trauer über die verpassten Olympischen Spiele. Da ist nach wie vor ein grauer Schatten, der sich über alles legt. Mir fehlt der Titel „Olympionike“. Das schmerzt am meisten.

10. Wie ging es dir in dieser Übergangszeit zwischen dem Ende der Sportlerkarriere und einem beruflichen Neuanfang?

Die richtig harte Zeit kam 2021, als das „Ende“ wirklich greifbar wurde. Ich war jetzt tatsächlich raus. Zwar hatte ich mein abgeschlossenes Psychologie-Studium und zwei zusätzliche Ausbildungen, ich hatte Auslandserfahrung, Jobangebote und kann gut kommunizieren. Aber trotzdem wusste ich nicht, was jetzt passiert. Diese Ziellosigkeit machte mich wahnsinnig. Ich hatte im Sport 20 Jahre lang ein großes Ziel gehabt, das mich durch alle Höhen und Tiefen getragen hat. Aber jetzt fragte ich mich: Warum sollst du morgens noch aufstehen? Und was kannst du eigentlich außer Wasserball zu spielen? Das hat mich wirklich umgetrieben.

11. Du bist in ein Loch gefallen?

Ja, diese Perspektivlosigkeit dauerte mehrere Monate. Ganz intensiv spürte ich das rund um die Olympischen Spiele 2021 in Tokio. Ich war viel allein zuhause, weil meine Frau Ruth als 400 Meter-Läuferin im Trainingslager und dann bei den Olympischen Spielen in Japan war. Ich leistete viel innerliche Arbeit und besuchte Workshops wie „Hinter der Ziellinie“ von der Deutschen Sporthilfe. Ich habe immer mehr herausgearbeitet: Was kann ich und was will ich eigentlich? Diese innere Arbeit ist sehr nachhaltig. Ich werde davon für den Rest meines Lebens profitieren.

12. Wie hast du deinen heutigen Job gefunden?

Ich bekam durch das Business-Netzwerk LinkedIn einen Kontakt. Wir haben uns ausgetauscht und ich bekam relativ schnell ein Jobangebot von dem Geschäftsführer der Beratung, in der ich heute tätig bin. Das ging Schlag auf Schlag. Wenige Wochen später habe ich meine Stelle in einer Personal- und Organisationsberatung begonnen. Eingestiegen bin ich als Praktikant, da ich keine „klassische“ Berufserfahrung hatte. Das war für mich auch völlig in Ordnung. Seit Oktober 2021 arbeite ich als Consultant.

13. Du kamst vom Sport. Dort warst du erfolgreich und erfahren. Jetzt warst du auf einmal Anfänger in einem ganz neuen Umfeld. Wie fühlte sich das an?

Es war ein Gefühl der Wirklosigkeit. Das fand ich furchtbar. Aber weil ich keine Ahnung hatte, habe ich mit großen Augen und Ohren alle Informationen aufgesaugt – und mich dann in die Arbeit gestürzt.

14. Inwieweit hilft bei deiner neuen Aufgabe dein Mindset als Sportler?

Es hilft mir sehr. Wenn ich was mache, mache ich es richtig. Wenn ich etwas anfange, bringe ich es zu Ende. Wenn ich etwas verspreche, halte ich es auch. Ich gebe täglich mein Bestes, übernehme Verantwortung, bin diszipliniert und habe eine hohe Eigenmotivation. Als Teamsportler habe ich zudem ein Auge für meine „Mitspieler“, also die Kollegin oder den Kollegen. Ich weiß, es funktioniert nur im Team. Selbst Einzelsportler sind nur dann erfolgreich, wenn sie ein funktionierendes Team hinter sich haben.

15. Was bringen dir im jetzigen Beruf deine Erfolge als Wasserballer?

Besonders im Kundenkontakt ist das durchaus hilfreich. Ich weiß, wie Leistung geht. Ich stehe für eine Sache ein. Ich kann hart arbeiten – und nebenbei bin ich noch Psychologe. Da schwingt schon was mit. Aber letztlich werde ich nicht daran gemessen, was ich mitgebracht habe, sondern was ich abliefere. Manche Leute finden meine Erfolge im Sport cool, anderen ist das aber völlig egal.

16. Welche Unterstützung benötigen SportlerInnen am Ende ihrer Karriere für den Übergang in eine neue berufliche Spur?

Vielen SportlerInnen könnte der Übergang erleichtert werden, wenn ihnen ans Herz gelegt wird, sich in ihrer Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Damit meine ich nicht nur die duale Laufbahn. Es geht darum, innere Arbeit zu leisten. Sich Fragen zu stellen wie: Was oder wer bin ich eigentlich? Was möchte ich sein? Wo will ich hin? Es geht darum, sich auch mal kritisch mit den eigenen Ideen auseinander zu setzen. Und zwar nicht erst am Karriereende, sondern bereits während der gesamten Laufbahn.

17. Würdest du sagen, der Übergang vom Sport in den neuen Beruf ist dir gut gelungen?

Auf jeden Fall. Ich habe einen festen Job, der mir Spaß macht. Ich arbeite für eine tolle Organisation. Ich kann mich als Vize-Präsident bei „Athleten Deutschland“ engagieren. Ich kann weiter an meinen Herzensthemen arbeiten. Ich bin aber weiter aktiv bei der Suche, wo ich hinwill. Das hört nie auf. Ich habe nicht den Masterplan für mein Leben. Ich bin ein Lernender. Ich bin auch nicht immer zufrieden, aber ich vertraue mir selbst und meinem Weg.

18. Wie sehr vermisst du den Wasserball-Sport?

Ich vermisse es wahnsinnig, regelmäßig zum Training zu gehen, beim Umziehen und im Training Quatsch zu machen oder im Kraftraum laut Musik zu hören. Und dann, wenn es ins Wasser geht, zu wissen: Jetzt geht es los. Alle fühlen sich verantwortlich für das, was sie tun. Sie wollen gemeinsam etwas erreichen, was sie alleine nicht schaffen. Diese Gemeinschaft im Sport fehlt mir am meisten.

Zur Person:

Tobias Preuß begann seine Laufbahn bei Wasserfreunde Spandau 04. Ab 2010 studierte er an der University of Southern California und wurde mit dem Sportteam USC Trojans dreimal Collegemeister. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland gewann er mit Spandau sieben weitere deutsche Meistertitel, 2018, 2020 und 2021 siegte er mit Waspo 98 Hannover.

2007 debütierte Preuß in der deutschen Wasserballnationalmannschaft. Sein erster Erfolg war ein sechster Platz bei der WM 2009 in Rom. 2018 belegte der Rechtsaußen mit dem DSV-Team Platz vier beim Weltcup, 2019 erreichte er das Viertelfinale bei der WM in Südkorea.

Preuß schloss sein Studium in Kalifornien mit einem Bachelor in Psychologie ab und machte später in Deutschland seinen Master. Seit Oktober 2021 ist er Vizepräsident von Athleten Deutschland e. V., der unabhängigen Interessenvertretung deutscher Kadersportler, und Mitglied der Athletenkommission des Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Er ist mit der Leichtathletin Ruth Sophia Spelmeyer-Preuß verheiratet.

Quellenangaben

Wir bedanken uns herzlich bei Johannes Seemüller, der dieses Interview geführt hat, und bei Tobias Preuß. Photo Credits der Sportbilder © JoKleindl