Cora Bögeholz - Diagnose Magersucht

Cora Bögeholz, 19, war eines der größten Talente im deutschen Rollkunstlauf. Vier Mal wurde die Sportlerin aus Barntrup (NRW) Jugendmeisterin, sie startete bei Europameisterschaften. Um sportlich noch besser zu werden, reduzierte sie ihr Gewicht. Sie rutschte in die Magersucht ab und wog eines Tages nur noch 39 Kilo. Es begann ein mühsamer Kampf um ihre Gesundheit und um neue Lebensenergie.
 

2022

Aufgezeichnet von SWR-Sportredakteur Johannes Seemüller. 

„Ich erzähle meine Geschichte, weil ich festgestellt habe, dass kaum jemand im Sport über das Thema Essstörungen spricht. Es ist nach wie vor ein Tabu. Wenn ich nur einer einzigen Person mit meiner Geschichte helfen kann, dann ist alles erreicht. “ 

—  Cora Bögeholz

Ich war schon als Kind sehr sportlich. Ich habe voltigiert und Tennis gespielt. Mit fünf Jahren kam ich dann über meine ältere Schwester zum Rollkunstlauf. Mir gefällt der Mix aus Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit. Rollkunstlauf ist ein sehr ästhetischer Sport. Es ähnelt dem Eiskunstlauf. Die Elemente sind nahezu identisch. Nur haben wir Rollen statt Kufen.

Mit zehn gewann ich in der Kategorie Schüler C auf Anhieb die Titel bei den Norddeutschen und Deutschen Meisterschaften. Meine Trainerin unterstützte mich und begleitete meinen sportlichen Aufstieg. Ich qualifizierte mich für kleinere internationale Wettbewerbe und wurde in den Deutschland-Kader eingeladen. In den kommenden zwei Jahren holte ich im Jugendbereich meine Meistertitel zwei und drei. Außerdem durfte ich für Deutschland an den Europameisterschaften teilnehmen. Das Rollkunstlaufen bedeutete mir damals alles.

Ich war unbeschwert und genoss mein volles, durchstrukturiertes Programm: Vier Mal pro Woche jeweils bis zu drei Stunden Training, an Wochenenden gab es ganztätige intensive Lehrgänge oder Wettkämpfe.

Ich wurde fraulicher

Dann kam ich in die Pubertät. Mit 14 veränderte sich mein Körper. Ich wurde fraulicher. Diese körperliche Veränderung machte sich vor allem in den Wettbewerben bemerkbar. Am Ende meiner knapp vierminütigen Programme ging mir oft die Puste aus.

Auch arbeitete es in meiner Psyche. Als Kind war ich einfach auf die Bahn gegangen, machte meinen Stiefel und ging wieder runter. Aber jetzt machte ich mir mehr Druck, war selbstkritischer und dachte über vieles nach.

Im Laufe der Zeit wurden die Elemente, die ich trainieren sollte, schwieriger. Die Choreographie, die Sprünge – alles wurde anspruchsvoller. Sprünge, die vorher gut geklappt hatten, wurden wackeliger. Meine Unzufriedenheit wuchs.

Ich hatte schon seit Längerem mit Rückenproblemen zu kämpfen. Die Ursache kenne ich bis heute nicht, man hat nie etwas gefunden. Teilweise war es so schlimm, dass ich nicht mal mehr zum Schulbus gehen konnte. Mehrfach musste ich Trainingspausen einlegen.

Fünf Kilo weniger

Das war dann wohl auch der Auslöser für ein Gespräch zwischen meinen Trainern und meinen Eltern. Ich wusste damals nichts von dieser Unterredung. Sie überlegten, ob es nicht sinnvoll wäre, an meinem Gewicht zu feilen. Die Rede war von fünf Kilo. Wenn ich weniger wiegen würde, hätte ich vielleicht weniger Probleme mit dem Rücken. Auch erhofften sich meine Trainer dadurch bessere Leistungen.

Plötzlich hörte ich Sprüche wie: „Das hat aber ganz schön viele Kohlenhydrate.“ Oder: „Das ist aber sehr ungesund.“ Alles Andeutungen, aber niemand sprach mich grundsätzlich auf das Thema Gewicht an. Das löste bei mir das Gefühl aus: Ich bin zu dick. Ich muss weniger essen. Ich wiege zu viel. Damals wog ich 55 Kilo bei einer Körpergröße von 1,61 m.

Zunächst bin ich auf die Anspielungen gar nicht eingegangen. Ich habe meist einen blöden Spruch gemacht. Ich habe ganz normal gegessen. Ich fand mich persönlich nicht dick. Durch mein intensives Training hatte ich einen sehr sportlichen Körper.

Komplimente von allen Seiten

Um meinen 15. Geburtstag herum, wurden mir die Weisheitszähne gezogen und ich durfte fast nichts essen. Dadurch verlor ich an Gewicht. Beim Training bekam ich plötzlich Komplimente. Sie sagten, ich sähe gut aus. Es stünde mir gut, dass ich etwas abgenommen hätte. Auch in der Schule hörte ich nur positive Äußerungen. Daraufhin gestaltete ich meine Ernährung Schritt für Schritt gesünder.

Mein Körper wurde immer definierter. Die Muskeln wurden sichtbarer, ich hatte ein Sixpack. Man sah die Adern an den Armen. Beim Training funktionierten meine Sprünge plötzlich besser als vorher. Ich merkte, meine neue Leichtigkeit bringt mich voran. Im Sommer 2018 gewann ich meinen vierten deutschen Meistertitel.

Ich bin ein perfektionistischer Mensch. Das wirkte sich extrem aufs Essen aus. Mit der Zeit aß ich überhaupt keine Süßigkeiten mehr und sortierte meine Lebensmittel aus. Fleisch- und Milchprodukte waren irgendwann tabu. Ich frühstückte nicht mehr morgens vor der Schule, sondern nur noch in der Schule. Damit sparte ich mir eine Mahlzeit. Vieles backte ich mir selbst – ohne Mehl und Zucker. Dadurch nahm ich kaum noch Kalorien zu mir, ich nahm immer mehr ab.

Haarausfall und Energieverlust

Die Konsequenzen waren schlimm. Über den Jahreswechsel 2018/19 bekam ich Haarausfall, ich war müde und schlapp. Ich konnte mich nicht mehr gut konzentrieren. Dies übertrug sich aufs Training. Meine Leistungen, die sich anfänglich noch gebessert hatten, wurden immer schlechter. Ich hatte keine Kraft und keine Motivation mehr. Irgendwann war ich so energielos, dass ich nur noch schlafen wollte. Ich unternahm auch kaum noch etwas mit meinen Freunden. Ich spürte, dass ich meine Lebensfreude verloren hatte. Ich konnte mich über nichts mehr freuen.

Es fielen entsprechende Kommentare wie: „Es reicht jetzt langsam mit dem Gewichtsverlust.“ Meine Arme seien zu dünn, das sehe nicht mehr schön aus. Ich dürfe nicht noch mehr an Gewicht verlieren. Aber damals hätte jeder zu mir kommen und seine Sorgen äußern können; es hätte mich nicht erreicht.

Obwohl ich kaum noch Energie hatte, riss ich mich weiter zusammen. Ich sollte mich für die Europameisterschaften vorbereiten. Aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich saß viel zu Hause und weinte. Ich wollte nicht mehr trainieren. Auch stellte ich meine EM-Teilnahme in Frage.

Ich bekam eine Magenerkrankung und nahm noch mal ab. Danach nahm mich meine Trainerin in der Sporthalle zur Seite: Was ist eigentlich mit dir los, Cora? In diesem Moment öffnete ich mich zum ersten Mal. Daraufhin erledigte sie alles für mich: Sie meldete mich von der EM ab und unterstützte mich mit ganzen Kräften.

Kein tägliches Training mehr

Wenig später trafen Mama und ich uns bei meiner Trainerin zuhause. Dort unterhielten wir uns darüber, wie es sportlich weitergehen könnte. Wir entschieden, dass ich erstmal kein Rollschuh mehr laufen würde. Nicht mehr täglich zum Training gehen zu müssen, war für mich erstmal wie eine Befreiung.

Ich befand mich auf einer Schussfahrt, die ich nicht mehr stoppen konnte. Ich nahm weiter ab. Im Oktober 2019, wenige Tage nach meinem 17. Geburtstag, wog ich nur noch 39 Kilo.

Ich zog mich zurück und dachte viel nach. Ich recherchierte viel im Internet zum Thema Magersucht und arbeitete Checklisten durch. Mir wurde klar, dass fast alle Angaben auf mich zutrafen. Meine Gesundheit hatte ab sofort oberste Priorität.

Ich sagte meiner Mutter, dass ich Hilfe in Anspruch nehmen wolle. Ich bat sie, mir eine Überweisung für eine psychotherapeutische Behandlung zu besorgen. Ich wollte das nicht alleine durchmachen. Die Diagnose auf dem Überweisungszettel lautete: Anorexia. Magersucht.

Psychologische Unterstützung

Ende 2019 fand meine Mama durch Zufall in der Umgebung eine Kinder- und Jugendpsychologin. Die Wartezeiten sind ja oft lang. In den kommenden Wochen ging ich regelmäßig zur Therapie, zwei Mal pro Woche. Es entwickelte sich schnell in eine positive Richtung.

Das Thema Ernährung nahm ich zuhause mehr oder weniger selbst in die Hand. Das funktionierte auch gut. Meine Therapeutin kontrollierte immer wieder mein Gewicht. Wir sprachen darüber, wie es ist und wie ich mich fühle.

Natürlich gab es Rückschläge; diese gibt es auch heute und bestimmt in Zukunft noch. Aber es ging in der Therapie stetig voran und ich lernte damit umzugehen. Die Zahl unserer Treffen verringerte sich allmählich.

„Ich ging nicht mehr auf die Waage“

Aber obwohl ich mich viel bewegte und wieder normal aß, nahm ich permanent zu. Mein Körper wusste gar nicht mehr, wie er mit Nahrung umgehen sollte.

Ich war einfach nicht mehr die, die ich mal gewesen war. Ich wollte eine glückliche, sportliche Cora sein, die sich in ihrem Körper wohlfühlt. Aber das tat ich nicht. Im Sommer 2020 wog ich etwa 65 Kilo. Irgendwann ging ich gar nicht mehr auf die Waage.

Meine Familie hatte immer ein offenes Ohr für mich, sie tröstete mich und versuchte grundsätzlich, ihr Bestes zu geben. Nur waren alle bei dem Thema überfordert und unwissend. Sie wussten oft nicht, wie sie mit mir umgehen sollten. Ich sehnte mich nach einer neutralen Person, die mich fachlich unterstützen könnte, die sich mit der Thematik auskennt und mir sagen würde: Cora, bleib dran. Du bist auf dem richtigen Weg, halte durch.

Endlich wieder stabil

Ich wollte in eine psychosomatische Klinik, meine Mama und ich haben alles versucht, aber auf einen Klinikplatz hätte ich über ein Jahr warten müssen. Also habe ich mir im Internet Gruppen gesucht, in denen meine Themen behandelt wurden, dazu las ich viele Fachbücher. Ich spürte, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Es war schön, dass ich wieder etwas empfinden konnte. Ich sah und hörte mich gelegentlich sogar wieder lachen.

Ich verstand, dass ich Geduld brauchte. Der Körper benötigt eben Zeit, um sich zu erholen.

Heute ernähre ich mich immer noch gesund. Aber ich weiß: Wenn ich Schokolade oder eine Pizza esse, nehme ich nicht gleich 20 Kilo zu. Ich habe gelernt, auf meine Körpersignale zu vertrauen. Mein Gewicht ist jetzt seit Monaten stabil. Ich bin wieder bei dem Gewicht, das ich ursprünglich hatte.

Es gibt nach wie vor Dinge, die mich triggern. Wenn ich von Menschen umgeben bin, die Diät machen, bin ich sehr sensibilisiert. Ich denke dann: Seid vorsichtig, welche Ratschläge ihr bei diesem Thema anderen gebt.

Mittlerweile bin ich für mein Studium umgezogen. Die Zeiten, in denen ich Rollkunstlauf als Bedrohung empfunden habe, sind zum Glück vorbei. Jetzt spüre ich wieder eine Leidenschaft.

Ich erzähle meine Geschichte, weil ich festgestellt habe, dass kaum jemand im Sport über das Thema Essstörungen spricht. Es ist nach wie vor ein Tabu. Wenn ich nur einer einzigen Person mit meiner Geschichte helfen kann, dann ist alles erreicht. 

Quellenangaben

Wir bedanken uns herzlich bei Johannes Seemüller, der diese Story für uns aufgezeichnet hat, und bei Cora Bögeholz.